Europakonzert 2020 aus der Philharmonie Berlin mit Kirill Petrenko
Trotz der Corona-Krise konnte das traditionelle Europakonzert auch fast 30 Jahre nach seiner Gründung stattfinden. Mitglieder des Orchesters traten unter der Leitung von Chefdirigent Kirill Petrenko in der leeren Philharmonie auf. Nach Werken von Arvo Pärt, György Ligeti und Samuel Barber erklang Gustav Mahlers Vierte Symphonie mit der Sopranistin Christiane Karg in einer Fassung für Kammerorchester. »Die philharmonischen Solisten verströmen sich hingebungsvoll – und es tut sich eine unerschöpfliche Welt im Kleinen auf« (Tagesspiegel).
Erwin Stein, ein Schüler Arnold Schönbergs, richtete für den legendären »Verein für musikalische Privataufführungen« im Jahre 1921 eine Fassung von Gustav Mahlers Vierter Symphonie für nur 15 Musiker ein. Die von Schönberg gegründete Institution stellte einem an zeitgenössischer Musik interessierten Publikum symphonische Kompositionen in reduzierter Instrumentalbesetzung vor. Auch deshalb, weil dem privat finanzierten Verein natürlich kein großes Orchester zur Verfügung stand.
Aus anderen, nämlich gesundheitspolitischen Gründen können die großen Orchester während der Corona-Krise nicht auftreten. So schien auch das traditionell am 1. Mai jeden Jahres veranstaltete Europakonzert der Berliner Philharmoniker, das zum ersten Mal unter der Leitung des Chefdirigenten Kirill Petrenko stattfinden sollte, ausfallen zu müssen. Die mit Vorfreude erwartete Reise zum Aufführungsort Tel Aviv wurde ebenso wie die im Anschluss geplante Konzerttournee abgesagt. Und doch traten Kiril Petrenko und Mitglieder seines Orchesters am vorgesehenen Datum und zur traditionellen Uhrzeit um 11 Uhr am Vormittag auf. Der Veranstaltungsort war – im Sinne der allgemeinen Devise »stay at home« – die Philharmonie. Aufgrund gesetzlicher Vorschriften hielten sich nicht mehr als 15 Musiker unter Berücksichtigung des geforderten Mindestabstands gleichzeitig auf der Bühne auf, alle Mitwirkenden wurden auf das Virus getestet – und Zuschauer waren im Saal natürlich nicht zugelassen. Das Europakonzert war allerdings von Anfang an auch als mediales Ereignis konzipiert worden. So erreichte die Ausgabe des Jahrgangs 2020 mit Live-Übertragungen in Fernsehen, Radio und in der Digital Concert Hall trotz der denkbar ungewöhnlichen Umstände schließlich ein großes Publikum in aller Welt. Und in der Fassung von Erwin Stein konnte auch das symphonische Hauptwerk des Abends, Mahlers Vierte Symphonie, aufgeführt werden.
Das Programm der ersten Konzerthälfte wurde allerdings geändert: Statt Kol Nidrei von Max Bruch und Orchesterliedern von Mahler nach Gedichten von Rückert wurden Kompositionen von Arvo Pärt, György Ligeti und Samuel Barber für Streichorchester gespielt. Pärts von gregorianischen Gesängen inspiriertes Werk Fratres ist mit seiner eingängigen Harmonik und Struktur und seinen sphärischen Klängen eines der berühmtesten Stücke aus der Nachkriegszeit. Ligetis Ramifications lassen durch originelle Spieltechniken der Streicher und geniale Klangfarbeneffekte auch an jene Instrumente denken, die im Europakonzert dieses Mal nicht zum Einsatz kommen konnten. Und Barbers Adagio, das als eines der traurigsten Stücke der Musikgeschichte gilt, ließ die Sorgen und Nöte der gegenwärtigen Situation zum Ausdruck kommen. Die Interpretation dürfte auch als solidarischer Gruß des Europakonzerts an Barbers Heimatland, die USA, verstanden werden, die von der Corona-Krise besonders stark betroffen sind.
Mahlers Vierte Symphonie ist auch in der Originalversion im Vergleich zu den vorausgegangenen Symphonien 2 und 3 schlanker besetzt. Im Kontrast zum monumentalen Gehalt der Vorgängerwerke beabsichtigte der Komponist mit ihr, eine musikalische »Humoreske« zu schreiben. Obwohl auch hier Abgründigkeit und Ironie nicht fehlen, enthält die Symphonie doch viele heitere und tröstliche Passagen. Das Finale, dessen Sopran-Solo, wie ursprünglich geplant, die gefeierte Sängerin Christiane Karg übernahm, erzählt im unverwechselbaren Wunderhorn-Ton vom »himmlischen Leben«.
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