Simon Rattle dirigiert Strawinsky und Rachmaninow
In den nervösen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg suchten viele Komponisten Halt in Vergangenheit und Tradition – andere hingegen stürzten sich auf die Verheißungen des 20. Jahrhunderts. Rachmaninows Die Glocken gehört in seiner sehnsuchtsvollen Wärme zur ersteren Kategorie, während Strawinskys Le Sacre du printemps seinerzeit die Grenzen der klassischen Musik sprengte. Simon Rattle dirigiert die Werke in einer spannenden Gegenüberstellung.
Als Igor Strawinsky und Sergej Rachmaninow 1942 im amerikanischen Exil in Beverly Hills erstmals aufeinandertrafen, soll das Thema Musik keine Rolle gespielt haben. Man verabredete sich zum Abendessen, sprach über Konzertagenten und Lizenzeinnahmen. Strawinsky erwähnte außerdem seine Vorliebe für Honig – worauf sein Kollege ihm wenige Tage später ein großes Glas davon schenkte. Dass sie ihre Arbeit nicht thematisierten, war allein ein Akt der Diplomatie. Denn Strawinskys und Rachmaninows Vorstellungen vom Komponieren unterschieden sich fundamental, wie bei diesem Konzert erfahrbar wird.
Strawinsky hat bei anderer Gelegenheit seine Meinung über den neun Jahre älteren unmissverständlich geäußert, etwa wenn er dessen tief emotionale Werke maliziös als »grandiose Filmmusik« titulierte. Rachmaninow selbst erklärte es als sein künstlerisches Ziel, »einfach und direkt zu sagen, was mir am Herzen liegt, sei es Liebe, Bitterkeit, Trauer oder Religion«. Dass er darüber hinaus keinen programmatischen Ehrgeiz hatte und seinen Stil über die Jahrzehnte kaum veränderte, war geradezu eine Provokation für Strawinsky. Für ihn hatte jeder Komponist den selbstverständlichen Auftrag, die Musik kontinuierlich zu erneuern, ihre Grenzen immer weiter auszuschreiten. Dieser Haltung verdanken wir bahnbrechende Partituren wie die energetische Ballettmusik Le Sacre du printemps, die an diesem Abend zu hören ist. Dem steht beispielhaft Rachmaninows Kantate Die Glocken nach einem Gedicht von Edgar Allen Poe gegenüber, die durch andere Qualitäten für sich einnimmt – etwa durch die Wärme des authentischen, unverstellten Gefühls.
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