Paavo Järvi dirigiert Brahms und Lutosławski
In Witold Lutosławskis mitreißendem Konzert für Orchester verbindet sich die herbe Wucht archaischer polnischer Volksmusik mit genialer, zukunftsweisender Konstruktion. Im reizvollen Kontrast dazu steht an diesem Abend Johannes Brahms’ heiter gestimmte Zweite Symphonie, entstanden während eines Ferienaufenthalts am Wörthersee. »Da fliegen die Melodien, dass man sich hüten muss, keine zu treten«, so der Komponist. Der Dirigent des Abends ist Paavo Järvi.
Wie Witold Lutosławski einmal bekannte, schrieb er nur »solche Musik, wie ich sie gern höre«. Kein ungewöhnliches Statement für einen Komponisten des 20. Jahrhunderts, will man meinen – und dennoch eines, das den besonderen Erfolg von Lutosławskis Musik in Ansätzen zu erklären vermag. Denn obwohl sich die ebenso vielschichtigen wie differenziert gearbeiteten Partituren des studierten Mathematikers durch ein hohes Maß an tonaler und rhythmischer Konstruktion auszeichnen, fanden und finden sie nicht nur die bewundernde Anerkennung von Fachleuten, sondern auch ungewöhnlich viel Zuspruch vonseiten des Publikums. Durchaus verständlich, war Lutosławskis unterschiedlichen Kompositionstechniken verpflichtete, mitunter auch experimentelle Musik doch nie Selbstzweck, sondern behielt immer das Hörerlebnis im Auge. In seinem zwischen 1950 und 1954 entstandenen Konzert für Orchester verband Lutosławski typische Elemente der polnischen Volksmusik mit seiner ureigenen kompositorischen Sprache. Ein geschickter Schachzug! Denn viele der Passagen, die beim ersten Hören des Werks avantgardistisch anmuten, erweisen sich als Adaptionen jahrhundertealter musikalischer Traditionen.
Der estnische Dirigent Paavo Järvi stellt dieses Meisterwerk Lutosławskis, das sich nach Aussage seines Komponisten über die Jahrzehnte hinweg seine »Frische bewahren« konnte, in einen Dialog mit Johannes Brahms’ 1877 in Wien uraufgeführter Zweiter Symphonie. Diese ging ihrem Schöpfer (gerade im Vergleich zu dem sich über zwölf Jahre erstreckenden Entstehungsprozess ihrer Vorgängerin) leicht von der Hand: Nachdem er in den Sommermonaten 1877 während eines Ferienaufenthalts in Pörtschach am Wörthersee – laut Brahms »ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, dass man sich hüten muss, keine zu treten« – mit der Konzeption des Werks begonnen hatte, konnte er die Arbeit an der Partitur bereits im Oktober desselben Jahres abschließen. Nicht zuletzt wegen ihrer heiteren Grundstimmung ist Brahms’ Zweite bis heute wohl seine meistgespielte Symphonie. Mit dem ihm eigenen, hintergründigen Humor teilte Brahms seinem Verleger hingegen mit: »Die neue Symphonie ist so melancholisch, dass Sie es nicht aushalten. Ich habe noch nie so was Trauriges, Molliges geschrieben: die Partitur muss mit Trauerrand erscheinen!«
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