Bernard Haitink dirigiert Mahlers Zweite Symphonie
Um die großen metaphysischen Fragen kreist Gustav Mahlers Zweite Symphonie. Gleich zu Beginn wird eine Totenfeier heraufbeschworen, ehe die folgenden Sätze die Schönheit des Lebens und der Natur besingen. Der Glaube und die Auferstehung des Menschen prägen den Abschluss. Bernard Haitink ist der ideale Dirigent, um die Klangpracht wie auch die transzendentalen Seiten des Werks hörbar zu machen.
Jede Symphonie Gustav Mahlers stellt eine ganz eigenständige Welterkundung dar – im Sinne eines berühmten Wahlspruchs des Komponisten: »›Symphonie‹ heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine ›Welt‹ aufbauen!«. In der Zweiten Symphonie reicht die Reise von einer »Todtenfeier« – wie Mahler den ersten Satz zwischenzeitlich betitelte – bis zur Anrufung der »Auferstehung« im zunächst im Pianissimo und a cappella einsetzenden und sich dann zu majestätischer Wucht steigernden Chorfinale. Dazwischen werden Naturerfahrungen und die Welt der Wunderhorn-Lieder evoziert: Im vierten Satz erklingt das zuvor als Klavierlied konzipierte Urlicht. Klangsprache und Formgebung der Symphonie wirkten zum Entstehungszeitpunkt so radikal, dass die ersten Aufführungen Unverständnis hervorriefen. Mittlerweile aber gehört die Erste zu den beliebtesten und bekanntesten Werken Mahlers.
Die Berliner Philharmoniker verbindet mit der Symphonie eine ganz besonders enge Beziehung: So dirigierte Mahler selbst hier die Uraufführung, gewissermaßen in zwei Tranchen, denn der ersten Gesamtdarbietung am 13. Dezember 1895 war die Interpretation der ersten drei, rein instrumentalen Sätze vorausgegangen. Zudem hatte der erste philharmonische Chefdirigent Hans von Bülow zweimal bedeutungsvoll in den mehrere Jahre dauernden Schaffensprozess eingegriffen. Mahler spielte dem Kollegen am Klavier den ersten Satz vor, den er zu diesem Zeitpunkt als Einzelwerk, als Symphonische Dichtung, herauszugeben beabsichtigte. Von Bülow soll sich während der Darbietung mehrmals die Ohren zugehalten und anschließend geäußert haben, dagegen klinge Wagners Tristan wie eine Haydn-Symphonie. Die Ablehnung des Kollegen und Mentors mag neben Mahlers aufreibenden Dirigierverpflichtungen dazu beigetragen haben, dass das Werk für einige Zeit zur Seite gelegt wurde. Inspiration zur Vollendung erhielt Mahler dann ausgerechnet auf der Trauerfeier für Hans von Bülow, bei der eine Vertonung von Klopstocks Gedicht Auferstehn, ja auferstehn wirst du vorgetragen wurde. »Auf diesen Blitz wartet der Schaffende, dies ist ›die heilige Empfängnis‹!« kommentierte Mahler das Ereignis. Er übernahm die ersten beiden Strophen Klopstocks, ergänzte sie um selbst gedichtete Verse und verwendete sie im Finalsatz seiner Symphonie.
Die Berliner Philharmoniker haben der monumentalen Komposition im Laufe ihrer Geschichte die Treue bewahrt: So führte Chefdirigent Arthur Nikisch das Werk im Oktober 1911 anlässlich einer Gedenkveranstaltung für den ein halbes Jahr zuvor verstorbenen Komponisten auf. Das Werk erklang auch beim ersten Rundfunkauftritt des Orchesters 1924. Zu den Dirigenten von Aufführungen in philharmonischen Konzerten gehörten seither Bruno Walter, Otto Klemperer, Lorin Maazel und Seiji Ozawa. Während Wilhelm Furtwängler nur sehr selten Musik Mahlers dirigierte und Herbert von Karajan die Zweite nicht in sein Repertoire aufnahm, spielte Mahler im Allgemeinen, die Zweite Symphonie im Besonderen, eine zentrale Rolle für die beiden folgenden Chefdirigenten Claudio Abbado und Sir Simon Rattle. Letzterer leitete bereits als Teenager eine Vorstellung und betonte, welchen starken Einfluss das Werk auf seine Entscheidung genommen habe, Dirigent zu werden.
Zwischen dem Beginn von Abbados und dem Ende von Sir Simons Amtszeit hat außer diesen beiden nur ein einziger Dirigent die Symphonie mit den Philharmonikern aufgeführt: Bernard Haitink, der eine Aufführung 1993 im Rahmen seiner systematischen Auseinandersetzung mit Mahler bei den Philharmonikern realisierte. Haitink gilt als maßstäblicher Interpret des Komponisten, weil er dessen überbordender Gefühls- und Klangwelt mit Strukturbewusstsein und untrüglichem Sinn für Spannungsverläufe begegnet. Der Symphonie hat sich Haitink mit der ihm eigenen geduldigen Treue angenähert und das Werk in Aufführungen in den 60er- bis 90er-Jahren mit dem Royal Concertgebouw Orchestra immer wieder aufs Pult gelegt. Eine ideale Voraussetzung für seine einzige Aufführung des Werks mit den Berliner Philharmonikern, die glücklicherweise hier dokumentiert werden konnte.
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