Simon Rattle dirigiert Brahms, Schönberg, Berg und Webern
Genial, aber unsinnlich: das ist das Urteil vieler Konzertbesucher über die Musik Arnold Schönbergs und seiner Schüler Alban Berg und Anton Webern. Wie falsch sie damit liegen, zeigt dieses Konzert, in dem Simon Rattle Orchesterstücke der drei Komponisten präsentiert: virtuose Musik von überwältigender Expressivität. Eine wichtige Inspiration des Schönberg-Kreises war Johannes Brahms, dessen sonnendurchflutete Zweite Symphonie das Konzert beendet.
Nachdem Johannes Brahms mehr als zwölf Jahre über der Partitur seiner 1876 in Karlsruhe aus der Taufe gehobenen Ersten Symphonie gebrütet hatte, ging ihm die Arbeit an seinem nächsten Beitrag zur wichtigsten orchestralen Gattung des 19. Jahrhunderts vergleichsweise leicht von der Hand. Mit der Konzeption seiner Zweiten Symphonie begann der Komponist in den Sommermonaten des Jahres 1877 während eines Ferienaufenthaltes in Pörtschach am Wörthersee – laut Brahms »ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, dass man sich hüten muss, keine zu treten«. Bereits im Oktober desselben Jahres konnte er das Werk vollenden.
Obwohl Brahms’ in der pastoralen Tonart D-Dur angelegte Zweite Symphonie sich gerade im Vergleich mit ihrer Vorgängerin eher heiter als wolkig ausnimmt, teilte der Komponist mit dem ihm eigenen, hintergründigen Humor seinem Verleger einen Monat später mit, das neue Werk sei »so melancholisch, daß Sie es nicht aushalten. Ich habe noch nie so was Trauriges, Molliges geschrieben: die Partitur muß mit Trauerrand erscheinen!« Die Wiener Uraufführung der Zweiten Symphonie geriet zu einem Triumph für Brahms – und das, obwohl der Komponist mit den Worten des Kritikers Eduard Hanslick gerade auch in diesem Werk bemüht war, »alles zu verschleiern oder abzudämpfen, was nach ›Effect‹ aussehen könnte«. Tatsächlich begegnete Brahms den knalligen Themenbildungen und orchestralen Exzessen, mit denen seine Antipoden zur selben Zeit Furore machten, mit kontrapunktischen Raffinessen, neuartigen Techniken der Motiventwicklung und ebenso differenzierten wie ebenmäßigen rhythmischen Strukturen.
Wie zukunftsweisend diese Aspekte von Brahms’ Kompositionstechnik waren, hat 56 Jahre nach der Uraufführung der Zweiten Symphonie kein Geringerer als Arnold Schönberg herausgestrichen: 1933 überraschte der Begründer der Zwölftonmusik mit der These, die Entwicklung der modernen Musik sei nicht unwesentlich von Brahms beeinflusst worden. So ist es nur folgerichtig, dass Sir Simon und die Berliner Philharmoniker ihrer Interpretation von Brahms’ Zweiter Symphonie Orchesterwerke von Schönberg und seinen Schülern Alban Berg und Anton Webern vorausschicken. In den Jahren zwischen 1909 und 1915 entstanden, ist diesen Kompositionen u. a. die Tatsache gemein, dass sie sich schon durch die jeweilige Titelgebung als (Orchester-)Stücke von der romantischen Tradition groß angelegter symphonischer Formstrukturen lossagen. Kein Zweifel besteht indes daran, dass die von Schönberg als »entwickelnde Variation« bezeichnete Kompositionstechnik von Brahms sich in diesen Werken niedergeschlagen hat.
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