Daniel Barenboim dirigiert Smetanas »Má vlast«
Jeder kennt Bedřich Smetanas Moldau – und fast niemand den Zyklus Mein Vaterland, dem das herrliche Flussporträt entstammt. Dabei vermittelt sich erst im Gesamtwerk Smetanas Vision, ein Panorama seiner tschechischen Heimat zu schaffen. Mit plastischen Naturbildern und dramatischen Schilderungen von Mythen und geschichtlichen Ereignissen. Am Pult dieser Aufführung steht Daniel Barenboim, Ehrendirigent der Berliner Philharmoniker mit einem besonderen Gespür für die kraftvollen Farben spätromantischer Musik.
Es war nicht nur ein Affront gegen Bedřich Smetana – der Wiener Dirigent Johann Herbeck legte seinen Finger mit herablassender Provokation in die Wunde eines ganzen Volkes: Die Begegnung ereignete sich 1857 auf der Weimarer Altenburg im Beisein des Gastgebers Franz Liszt, der Smetana freundschaftlich verbunden war. Als die Frage aufkam, was die einzelnen Nationen Großes in der Musik geleistet hätten, urteilte Herbeck: »Die Böhmen gar nichts«, denn, so meinte er, »kein einziges Werk habt ihr, das so vom tschechischen Geist beseelt wäre, dass es deswegen eine Bereicherung der europäischen Musikliteratur sein könnte.« Sofort sprang Liszt seinem Freund zur Seite, spielte auf dem Klavier Smetanas Charakterstücke op. 1 und rief: »Hier haben Sie den Komponisten mit dem echt böhmischen Herzen.«
Wenngleich Smetana in seinem Nationalstolz gekränkt war, musste er im Stillen doch zugeben, dass Herbeck nicht völlig Unrecht hatte. Die Kultur der Tschechen war innerhalb von zwei Jahrhunderten unter andauernder Fremdherrschaft verdrängt worden – Smetana selbst sprach besser Deutsch als Tschechisch, da letzteres im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat verpönt war. Der Wunsch nach Identität verdichtete sich für Smetana nach diesem Vorfall zur Herzensangelegenheit: Das Vorhaben, seinem Volk eine musikalische Stimme geben, gelang ihm mit seinem zwischen 1872 und 1879 komponierten Zyklus Má vlast.
Das erste der sechs »symphonischen Gedichte« Vyšehrad, benannt nach dem Prager Königsburgfelsen, beginnt mit einem prächtigen Harfensolo. Es verkörpert den Gesang eines Barden, der Smetana als Erzählerinstanz für sein musikalisches Epos vorschwebte. Der Erinnerung an Glanz und Niedergang der altböhmischen Herrscher folgt mit der heute so berühmten Moldau ein gegenwärtig-zeitloses Naturgemälde von mitreißender Klangdramaturgie. Šárka führt in die Welt der Volksmythen. In Aus Böhmens Hain und Flur trifft idyllische Naturschönheit auf die Ausgelassenheit des Volkstanzes. Tábor setzt dann den hussitischen Glaubenskämpfern ein Denkmal mit dem Choral »Die ihr Gottes Streiter seid«. Derselbe Choral erklingt – zum Siegeshymnus umgeformt – in Blaník, das die Rettung Böhmens durch den Heiligen Wenzel beschwört. Smetana selbst sollte den Zyklus niemals hören, er war 1874 innerhalb kürzester Zeit ertaubt.
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